afrikanische Terrakotten und klassische Bronzen aus Nok, Tada und Ife

afrikanische Terrakotten und klassische Bronzen aus Nok, Tada und Ife
afrikanische Terrakotten und klassische Bronzen aus Nok, Tada und Ife
 
Die ältesten bekannten Skulpturen Afrikas stammen aus dem Dorf Nok, das am Westrand des Josplateaus in Mittelnigeria liegt. 1928 fand man den ersten Keramikkopf, maß ihm aber noch keine besondere Bedeutung bei. Erst als der britische Archäologe Bernard E. Fagg bei seinen Grabungen 1943 einen zweiten Kopf fand, erkannte er, dass es sich hier um Fundstücke einer alten Kultur handelte. Verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen machten deutlich, dass sich die Kultur von Nok früher über ein Gebiet mit einer Nordsüd-Ausdehnung von über 300 km ausgebreitet hatte. Die meisten der seit 1943 in diesem Gebiet gefundenen Objekte wurden in Gruben für den Zinnabbau entdeckt. Es sind vor allem Terrakottaköpfe; die dazugehörigen Körper fehlen oder sind nur in kleinen Bruchstücken vorhanden. Da die Leute von Nok die Flusstäler und die Höhen bewohnten, vermutet man, dass Wassermassen die Behausungen überfluteten. Die Statuetten wären nach dieser Annahme in den Fluten zerbrochen, und nur die runden Köpfe hätten die Einflüsse des Wassers und der Witterung überdauert. Die Blütezeit von Nok wird auf 500 v. Chr. bis etwa 200 n. Chr. datiert.
 
Im ersten vorchristlichen Jahrtausend war dieses Gebiet wesentlich regenreicher als heute. Bewohnt wurde es von Pflanzern, die auch jagten — so wie die dort ansässige Bevölkerung es heute noch tut. Die Menschen kannten bereits das Eisen und die Eisenbearbeitung, was die Funde von Schlacken und rudimentären Eisenwerkzeugen belegen. Man fand auch Reibsteine, Hacken und ölhaltige Samenkörner. Diese Beifunde unterstützen die Vermutung, dass es sich hier um eine argrarische Kultur handelte. Die Nok-Köpfe gehörten dementsprechend wahrscheinlich zu Ahnenfiguren, die man — wie in afrikanischen Pflanzerkulturen üblich — auf Hausaltären aufstellte. Die Objekte weisen bereits eine große Kunstfertigkeit auf. Sie müssen also Vorläufer gehabt haben. Audrucksstarke Köpfe kennzeichnen die Kunst der Nok-Kultur. Sie sind nach der Natur gearbeitet, aber doch stilisiert. Augen, Nase und Ohren — teilweise auch der Mund — sind durchlöchert, Bart, Augenbrauen und Haare gerieft. Dreiecke oder nach unten gerichtete Halbkreise bilden die Augen. Breite, geblähte Nasenflügel und manchmal auch lange Ohren sind typische Merkmale dieser Köpfe.
 
In den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts wurden einige hundert Kilometer nördlich von Nok, bei Sokoto, weitere Objekte gefunden, die offensichtlich ebenfalls zur Nok-Kultur gehören. Warum aber diese Kultur um 200 n. Chr. verschwand, bleibt bis heute ein Rätsel. Das auf diese Phase folgende »dunkle Zeitalter« dauerte in Nigeria etwa 1000 Jahre, bis dann die Plastiken von Ife geschaffen wurden. Ife (früher Ile-Ife) ist das geistliche und weltliche Zentrum der Yoruba. Die Stadt liegt im Südwesten Nigerias und wird bis heute von allen Yoruba, obgleich sie nie eine politische Einheit bildeten, als ihr Zentrum anerkannt. Der Oni (= König) von Ife ist ihr Oberhaupt. Alle Herrscherfamilien der Yoruba-Reiche leiten ihre Herkunft von Ife ab. Mit ihren zwölf bis 15 Millionen Menschen gehören die Yoruba heute zu den größten Völkern Afrikas. Sie sind etwa im 8. bis 10. Jahrhundert, von Nordosten kommend, in Ife eingewandert. Vielleicht haben sie aus Nordostafrika die Kenntnis des Bronzegusses mitgebracht, der auch in ihrer Kunst eine große Rolle spielt. Sie errichteten ein sakrales Königtum, dessen zentrale Ideen möglicherweise ebenfalls aus Nordostafrika stammten, denn dort gab es diese Institution nachweislich schon früher.
 
Die Kultur von Ife beeindruckt bis heute durch ihre klassischen Skulpturen, die so ganz anders aussehen als die aus anderen Regionen Afrikas bekannten Kunstwerke. Bekannte Kunstwissenschaftler, wie etwa Elsi Leuzinger, sprachen von Ife als dem »schwarzen Athen« und vom »verfeinerten Realismus, der die Kunst von Ife erstaunlich nahe an unser europäisches griechisches Ideal von einer klassisch schönen, harmonisch ausgewogenen Skulptur heranführt«. In Ife entstanden einmalige Kunstwerke aus »Bronze« (im engeren Sinn Messing), gebranntem Ton und Stein. Im Unterschied zu Nok sind hier auch Ganzkörperfiguren erhalten.
 
Im Dorf Tada, am Niger, ist eine fast lebensgroße und sehr naturalistisch gestaltete Messingplastik gefunden worden - neben sechs kleineren. Die Funde werden von Fachleuten in die Ife-Schule eingeordnet, obgleich ein solcher Naturalismus in Ife unbekannt ist. Die Hände und der rechte Fuß der großen Figur sind in einem jährlich wiederholten Ritus mit Sand und Wasser weggerieben worden - die Zeremonie wurde bis in dieses Jahrhundert hinein am Niger durchgeführt.
 
Die Ife-Köpfe weisen um den Mund und über der Stirn feine Löcher auf, in die wahrscheinlich Perlen oder ein Perlendiadem gesteckt wurden. Man nimmt auch an, dass die Köpfe früher an bekleideten Holzgestellen befestigt wurden. Damit würden sie den heutigen »Ako«-Figuren aus Owo ähneln; das sind lebensgroße Holzpuppen, die bei Bestattungsfeierlichkeiten durch die Stadt getragen und anschließend in einem Beerdigungsritus verscharrt werden. Diese Puppen stellen den Verstorbenen dar. Regelmäßige Riefelungen des Gesichts zieren viele dieser Köpfe. Möglicherweise handelt es sich um die Nachahmung einer Narbentätowierung.
 
Der Ethnologe und Forscher Leo Frobenius, der während seiner Nordkamerun-Nigeria-Expedition (1910-12) auch in Ife Grabungen durchführte, war einer der ersten europäischen Entdecker der Bronze- und Terrakottaköpfe von Ife. Er sammelte die Mythen und Legenden, die sich auf diese Kunstwerke bezogen. Da die Legenden lange nach der Ife-Zeit entstanden, ist es allerdings schwierig, aus ihnen Schlüsse zum Ursprung dieser Kultur zu ziehen. Wahrscheinlich ist jedoch mit dem Untergang der Herrscher von Ife auch das Wissen um die Bedeutung dieser Skulpturen untergegangen. Frobenius selbst meinte, die versunkene Atlantis-Kultur, von der der griechische Philosoph Platon geschrieben hatte, entdeckt zu haben. Andere Forscher seiner Zeit waren bei der Entdeckung Ifes davon überzeugt, dass Afrikaner solche Kunstwerke nicht schaffen konnten. Sie gingen deshalb davon aus, dass Künstler aus dem Mittelmeerraum hier am Werk gewesen seien. Jedoch unterscheiden sich diese Kunstwerke in ihren stilisierten Teilen ganz deutlich von denen des antiken Griechenland. Näherliegend ist dagegen, eine Verbindungslinie von Nok nach Ife anzunehmen. Vielleicht sind Techniken von Nordostafrika, beispielsweise Meroë oder Ägypten, eingedrungen. Unabhängig von möglichen äußeren Einwirkungen sind jedoch alle Skulpturen in ihrem Ausdruck sehr afrikanisch.
 
Prof. Dr. Josef Franz Thiel
 
 
Afrikanische Kunst aus der Sammlung Han Coray 1916—1928, herausgegeben von Miklós Szalay u. a. Ausstellungskatalog Völkerkundemuseum der Universität Zürich. München u. a. 1995.
 
Benin. Kunst einer afrikanischen Königskultur. Die Benin-Sammlung des Museums für Völkerkunde Wien, bearbeitet von Armand Duchâteau. Neuausgabe München u. a. 1995.
 Broszinsky-Schwabe, Edith: Kultur in Schwarzafrika. GeschichteTraditionUmbruchIdentität. Köln 1988.
 Eyo, Ekpo und Willett, Frank: Kunstschätze aus Alt-Nigeria. Ausstellungskatalog Roemer- und Pelizaeus-Museum Hildesheim. Mainz 1983.
 Förster, Till: Kunst in Afrika. Köln 1988.
 Kecskési, Maria: Kunst aus dem alten Afrika. Ausstellungskatalog Staatliches Museum für Völkerkunde, München. Innsbruck 1982.

Universal-Lexikon. 2012.

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